Klima und Menschenrechte: Die Irrungen Strassburgs

Am 9. April 2024 stellte sich die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die Seite einer Gruppe von Schweizer Bürgerinnen gegen die Klimapolitik der Schweiz. Das Urteil gilt als historisch. Gut ist es keinesfalls.

(Bild: pixabay) Die Bilanz der Schweiz im Bereich des Klimaschutzes umfasst ihre Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll von 1997.

Das Urteil ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens lassen die Richter in Strassburg etwas zu, was die Schweiz ausdrücklich untersagt, Sammelklagen. Zweitens werden die Klimaschutzmassnahmen eines der ambitioniertesten Länder der Welt für ungenügend erklärt. Die Entscheidung Strassburgs ist in beiden Punkten umstritten.

Die Vorgeschichte ist relativ einfach. Eine Gruppe von Personen, die sich selbst als «Klimaseniorinnen» bezeichnen, führte einen Rechtsstreit gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft. Die Klägerinnen behaupteten, die Klimapolitik des Landes schütze nicht ihr Recht auf Leben.

Kein Gericht akzeptierte den Fall im dreistufigen Rechtssystem der Schweiz, weil es kollektive Rechtsschutzmechanismen wie in den Vereinigten Staaten ausschliesst. Das Schweizer System betont traditionell die Rechte und den Schutz des Einzelnen und ist skeptisch gegenüber Massenklagen. Nachdem die Kläger alle inländischen Möglichkeiten ausgeschöpft hatten, brachten sie ihren Fall vor den Gerichtshof in Strassburg.

Das Urteil in Kurzform
Der Gerichtshof stellte fest, dass in einigen Fällen eine Einzelperson die Kriterien für den sogenannten Opferstatus nicht erfüllen kann, wohl aber eine Gruppe von Menschen. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel sieht der Gerichtshof die Bedeutung kollektiver Massnahmen für die «intergenerationelle Lastenteilung».

Dieses Konzept bezieht sich auf die Idee, dass die Verantwortung für die Bewältigung des Klimawandels über die Generationen hinweg geteilt werden sollte, wobei jede von ihnen Massnahmen ergreift, um die Auswirkungen des Klimawandels zum Nutzen künftiger Generationen zu mildern.

In seiner Rechtsauslegung stellt der Gerichtshof fest, dass Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht des Einzelnen «auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität» umfasst.


Das Strassburger Urteil ist typisch für den Trend zu aktivistischen Gerichten.

Behauptungen Strassburgs
Der Gerichtshof behauptet, dass die Schweiz zuvor ihre Emissionsreduktionsziele nicht erreicht hat, und dass das Schweizer Volk ein ehrgeizigeres Klimaschutzgesetz abgelehnt hat. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet dies, dass die Unterzeichnerstaaten und Vertragsparteien der Konvention – zu denen auch die Schweiz gehört – verpflichtet sind, klimapolitische Massnahmen zu ergreifen und umzusetzen.

Im Fall der Schweiz stellte der Gerichtshof fest, dass es «kritische Lücken im Prozess der Einführung des einschlägigen nationalen Regelwerks gab, einschliesslich des Versäumnisses der Schweizer Behörden, die nationalen Treibhausgasemissionsgrenzen durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu quantifizieren.»

Darüber hinaus behauptet das Gericht, dass die Schweiz ihre Emissionsreduktionsziele bisher nicht erreicht habe, und dass das Schweizer Volk ein ehrgeizigeres Klimaschutzgesetz abgelehnt habe. Beides sind nach Ansicht der Richter Indikatoren für die Lücken in der Schweizer Klimapolitik, die einen Verstoss gegen Artikel 8 der Konvention darstellen.

Sachliche Fehler
Das Gericht irrt sich in mehreren faktischen Fragen. Die Bilanz der Schweiz im Bereich des Klimaschutzes umfasst ihre Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll von 1997, dem vorherrschenden internationalen Rahmen für die Klimapolitik vor der Einführung des Pariser Abkommens von 2016.

Die Schweiz hat alle ihre Verpflichtungen zur Reduktion von Treibhausgasen im Rahmen des Kyoto-Protokolls in beiden Anrechnungszeiträumen (Kyoto I und Kyoto II) erfüllt und verfügt über national festgelegte Klimaziele im Rahmen des nachfolgenden Pariser Abkommens.

Diese Bilanz ist jedoch nicht Gegenstand des Strassburger Verfahrens, da sich die Klage der Kläger auf die Ziele der Schweiz für 2020 und darüber hinaus bezog. Wenn der Gerichtshof feststellt, dass die Schweiz ihre Klimaverpflichtung nicht erfüllt hat, ignoriert er den relevanten Zeitrahmen: Das Land hat sich verpflichtet, seine Treibhausgasemissionen (im Vergleich zu 1990) bis 2030 zu halbieren. Es ist noch nicht 2030.

Unklare Vorstellungen
Das Gericht ist ausserdem der Ansicht, dass ein Kohlenstoffbudget das wichtigste Instrument zur Quantifizierung der Treibhausgasemissionen und ihrer Verringerung ist. Allerdings hat kein Land einen national festgelegten Beitrag in Form eines Kohlenstoffbudgets formuliert.

Einige Länder definieren ihre Klimaziele in Form einer relativen Emissionsreduktion gegenüber 1990, andere verfolgen einen instrumentenbasierten Ansatz und wieder andere orientieren sich an der Intensität des CO2 Ausstosses.

In der Realität verfügen die Schweiz und die meisten Länder über ein Kohlenstoffinventar – eine Tatsache, die der Rechnungshof übersehen hat, da er den Grundsatz der «gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten» gemäss Artikel 2 des Pariser Abkommens überwachte. Dieser Grundsatz umfasst die Vielfalt der Methoden zur Bilanzierung, Verfolgung und Kommunikation von Kohlenstoffinventaren und deren Veränderungen.

Ein wichtiger Fang
Trotz aller Probleme des Urteils: Der Gerichtshof hat auf einen wichtigen Fehler im geltenden Schweizer Recht zum Klimawandel hingewiesen. Artikel 1 des Bundesgesetzes über die Reduktion der CO2-Emissionen lautet: «Mit diesem Gesetz sollen die Treibhausgasemissionen, insbesondere die CO2-Emissionen, die auf die energetische Nutzung fossiler Energieträger (Brenn- und Treibstoffe) zurückzuführen sind, vermindert werden mit dem Ziel, einen Beitrag zu leisten, den globalen Temperaturanstieg auf weniger als 2 Grad Celsius zu beschränken.»

Die 2 Grad sind die Knacknuss: Was manche Kritiker als nichtssagende Deklaration interpretieren mögen, ist in Wirklichkeit eine juristische Formulierung, die die Schweiz zu einem ehrgeizigen globalen Handeln verpflichtet.

Unabhängig von den operativen Zielen, die im übrigen Gesetz formuliert sind, und den nationalen Instrumenten, die eingeführt wurden, sind die Bemühungen des Landes am ersten Artikel des Gesetzes zu messen, d. h. am Massstab des globalen Handelns. Nur bei der granularen Prüfung durch den Gerichtshof bleibt die Schweiz hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil ihr Gesetz inkonsistent ist.

Die Auslegung des Urteils
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Folgen dieses Strassburger Urteils für die Schweiz zu beurteilen. Die weniger wichtige ist die Frage, was das Land nun tun muss. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist «der Staat rechtlich verpflichtet, unter der Aufsicht des Ministerkomitees die allgemeinen und/oder gegebenenfalls individuellen Massnahmen auszuwählen, die in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung zu ergreifen sind, um die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung zu beenden und die Situation zu bereinigen».

Der wichtigere Aspekt des Urteils hat mit seinen möglichen langfristigen Folgen zu tun. Erstens schafft es ein neues, positives Recht für bestimmte Gruppen von Bürgern: das Recht, vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels geschützt zu werden. Zweitens schafft es ein weiteres neues positives Recht auf eine generationenübergreifende Lastenteilung im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Diese beiden Punkte sind nicht auf die Schweiz beschränkt; der Gerichtshof stellt klar, dass sie für alle Unterzeichnerstaaten gelten.

Im schweizerischen Kontext positioniert sich der Gerichtshof, um das Ergebnis einer Volksabstimmung zu beurteilen. In der Schweiz kann kein Gericht das Ergebnis einer Abstimmung beurteilen, geschweige denn beseitigen oder ändern. Der Strassburger Gerichtshof masst sich jedoch diese Befugnis an.

Abweichende Meinung
In einer teilweise abweichenden Meinung stellte Richter Tim Eicke fest, dass «die Mehrheit [der Richter] bei diesem Urteil versucht hat, zu rennen, bevor sie gehen konnte». Er drückte seine Besorgnis darüber aus, dass «die Mehrheit in der Tat die (falsche) Hoffnung weckt, dass ein Rechtsstreit und die Gerichte ‹die Antwort› liefern können, ohne dass es in der Tat irgendeine Aussicht auf einen Rechtsstreit (insbesondere vor diesem Gericht) gibt, der die Ergreifung notwendiger Massnahmen zur Bekämpfung des anthropogenen Klimawandels beschleunigt.»

Richter Eicke und andere Experten ausserhalb des Gerichtshofs haben auch argumentiert, dass die Mehrheit die Beweise in Bezug auf ihre Quellen und Gewichtung teilweise willkürlich aufgenommen hat. Das Gericht sei einseitig vorgegangen, indem es in erster Linie die Materialien berücksichtigt habe, die seine Schlussfolgerungen stützen, anstatt sein Urteil aus der Gesamtheit der Beweise abzuleiten.

Besonders deutlich wird dieser Vorwurf bei der Behandlung der Berichte des Internationalen Gremiums für Klimaänderungen durch das Gericht. Die meisten Richter liessen die meisten der über 80 vom Gremium entwickelten Szenarien ausser Acht und konzentrierten sich ausschliesslich auf das ehrgeizigste Szenario.

Aktivistische Gerichte
Das Strassburger Urteil ist typisch für den Trend zu aktivistischen Gerichten. In den meisten europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten versuchen einige Gerichte, eine stärker normative Rolle zu übernehmen und den politischen Ansichten der Mehrheit der Richter zu folgen.

Obwohl dieser Trend offensichtlich ist, wird er wohl kaum die Zukunft der Justiz bestimmen. Aktivistische Urteile können immer noch von den nationalen Gesetzgebern angefochten werden, die versuchen, ihre Kontrolle über den Gesetzgebungsprozess zu behalten. Die Gerichte können zwar Druck auf den Gesetzgeber ausüben, aber sie können ihn nicht ersetzen.

Henrique Schneider

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