«Gute Prävention wirkt und zahlt sich aus»

Die BFU, Beratungsstelle für Unfallverhütung leistet wertvolle Arbeit, damit in der Schweiz weniger folgenschwere Unfälle passieren. Stefan Siegrist, Direktor der BFU, spricht in diesem Interview über die Entwicklung der Unfälle, über Unfallprävention und -entwicklung, über Forschung, und über neue Projekte und Kampagnen.

(Bilder: BFU/Simon Iannelli) Eine gut gebaute Strasseninfrastruktur soll möglichst selbsterklärend sein.

Die BFU setzt alles daran, Gefahrenquellen zu erforschen und Unfallrisiken durch gezielte Prävention zu senken. Wie gut gelingt dies der BFU in den letzten zehn Jahren, was sind die wichtigsten Meilensteine?
Stefan Siegrist: Gute Prävention wirkt und zahlt sich aus. Damit unsere Massnahmen greifen, arbeiten wir wissenschaftlich und faktenbasiert. Bevor eine Präventionsmassnahme umgesetzt wird, erforschen wir die Unfallursachen und bewerten das Sicherheitspotenzial. Der unmittelbare Erfolg der BFU ist allerdings schwer messbar, denn das Unfallgeschehen hängt von verschiedenen Faktoren ab – etwa von der Exposition, also wie häufig und wie lange wird eine bestimmte Tätigkeit ausgeführt wird. Einfacher gesagt: An einem schönen Sommertag zieht es mehr Menschen ans Wasser. Schwimmen mehr Menschen in offenen Gewässern, steigt leider auch die Zahl der Ertrinkungsunfälle.
Meilensteine gibt es viele. Wir beschäftigen uns beispielsweise intensiv mit den Auswirkungen des automatisierten Fahrens auf die Verkehrssicherheit und bringen unsere Expertise in neue Gesetzesprozesse sowie in nationale und internationale Gremien ein. Gleichzeitig haben wir eine nationale Kampagne entwickelt, in der wir den enormen Sicherheitsnutzen von Fahrerassistenzsystemen thematisieren. In den letzten Jahren hat die BFU auch die Arbeit mit Sportverbänden intensiviert. Wir arbeiten enger zusammen, damit wir die Unfallprävention direkt in den Sportarten verankern können. Und gemeinsam mit Partnern haben wir ein schweizweites Programm zur Sturzprävention für die ältere Bevölkerung auf den Weg gebracht. Das Ziel: Seniorinnen und Senioren sollen ihr persönliches Sturzrisiko mit gezieltem Training reduzieren.

Stefan Siegrist, Direktor der BFU: «Die Unfallentwicklung der letzten Jahre im Strassenverkehr bereitet uns Sorgen.»

In welchen Bereichen passieren die meisten Unfälle in der Schweiz?
Die meisten Nichtberufsunfälle – nämlich knapp die Hälfte – passieren dort, wo wir sie nicht unbedingt vermuten und wo wir uns sicher fühlen, nämlich zu Hause und in der Freizeit. Hier sind es vor allem Stürze, die den grössten Teil der Unfälle ausmachen. Danach folgen mit 37 Prozent die Sportunfälle. Unfälle im Strassenverkehr machen 14 Prozent der Unfälle aus. Das mag nach wenig klingen, aber gerade bei Unfällen im Strassenverkehr gehen potenziell am meisten Lebensjahre verloren, etwa wenn Kinder oder Jugendliche bei Verkehrsunfällen schwer verletzt oder getötet werden. Insgesamt gibt es in der Schweiz jährlich 39’300 Schwerverletzte und 2400 Getötete bei Nichtberufsunfällen.

Im vergangenen Jahr waren es 236 Tote und 4096 Schwerverletzte im Strassenverkehr. Das ist der zweithöchste, respektive der höchste Wert in den letzten fünf Jahren. Auf was führen Sie dies zurück?
Die Unfallentwicklung der letzten Jahre im Strassenverkehr bereitet uns Sorgen. Seit den 70er-Jahren gab es eine eindeutige Tendenz zu weniger Unfällen. Doch in den letzten Jahren stoppte diese Entwicklung. Hinsichtlich der möglichen Gründe ergibt sich bei den getöteten Verkehrsteilnehmenden kein eindeutiges Bild. Die Zahlen schwanken in den letzten Jahren. Eindeutiger ist die Situation bei den Schwerverletzten. Hier zeigt sich eine Verschiebung hin zum Langsamverkehr und zu den schwächeren Verkehrsteilnehmenden. Dass die Gesellschaft immer älter wird, spielt hier eine Rolle. So ist das Durchschnittsalter der Schwerverletzten und Getöteten in den letzten Jahren von 42 auf 46 Jahre gestiegen. In Autos sind die Menschen dagegen immer sicherer unterwegs, weil die Fahrzeuge über immer modernere Technik verfügen. Insgesamt wird der Verkehr, neben den genannten demografischen Veränderungen, immer vielfältiger, dichter und digitaler. Diese Faktoren wirken sich auch auf die Verkehrssicherheit aus. Noch ist unklar, ob sich die ungünstige Tendenz der letzten Jahre fortsetzen wird, aber die Unfallzahlen verdeutlichen, dass Verkehrssicherheit kein Selbstläufer ist. Es braucht den Willen, sich langfristig für die Verkehrssicherheit zu engagieren. In der Politik, den Behörden, aber auch bei den einzelnen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmern.

Wo muss man ansetzen, um die Unfälle im Strassenverkehr zu senken, respektive welches sind die wirksamsten Massnahmen?
Wirksame Unfallprävention basiert auf ganzheitlichen Konzepten mit Massnahmen, die auf verschiedenen Ebenen wirkungsvoll ineinandergreifen. Dazu gehört beispielsweise eine Infrastruktur, die so gestaltet ist, dass die Verkehrsteilnehmenden sich intuitiv richtig verhalten. Und wenn es trotzdem zu einem Unfall kommt, soll dieser möglichst keine schwerwiegenden Folgen haben. Auch die Tempogestaltung hat einen enormen Einfluss auf die Verkehrssicherheit. Allein auf Tempo-50-Strecken werden jährlich rund 1900 Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer schwer verletzt, 80 kommen ums Leben. Mindestens ein Drittel dieser schweren Unfälle liesse sich verhindern, wenn Tempo 30 innerorts überall dort eingeführt wird, wo es die Verkehrssicherheit erfordert. Ohne dass dies nennenswerte Auswirkungen auf den Verkehrsfluss hat. Weiter gilt es, intelligente Fahrzeugtechnologien zu fördern, die Fahrausbildung weiterzuentwickeln sowie Alkohol-, Drogen- und Geschwindigkeitskontrollen präventiv auszurichten. Ebenfalls unerlässlich ist es, Menschen für eine sichere Verkehrsteilnahme zu sensibilisieren, zum Beispiel durch edukative Massnahmen oder nationale Sensibilisierungskampagnen, wie etwa die neue E-Bike-Kampagne der BFU.

Wo liegen die grössten Herausforderungen bezüglich Verkehrssicherheit?
Ein besonders hohes Risiko für schwere Verkehrsunfälle haben Neulenkende, Motorradfahrerinnen und Motorradfahrer, Seniorinnen und Senioren sowie Personen auf dem Fahrrad oder E-Bike. Auf diese Gruppen richtet sich ein Grossteil unserer Präventionsarbeit. Ein konkretes Beispiel dazu. Wir wollen die Risikokompetenz von Neulenkenden beim Fahren fördern. Dazu haben wir gezielte Unterlagen entwickelt, beispielsweise Risikodialoge, die eine Fahrlehrerin mit ihrem Fahrschüler führen kann. So wird das Thema ganz einfach in der Fahrstunde aufgegriffen und diskutiert. Mit praxisnahen Ansätzen wie diesen und mit der Unterstützung von Multiplikatoren, in diesem Fall die Fahrschulen, wollen wir möglichst viele Menschen erreichen. Wichtig ist mir auch zu erwähnen, dass die Politik einen grossen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten kann. In der jüngeren Vergangenheit hatte dieses Thema bei politischen Entscheidungen jedoch nicht immer den nötigen Stellenwert.

Rund 150 tödliche Unfälle passieren jährlich im Sport, dazu kommen 15’000 Schwerverletzte pro Jahr. Wo liegen hier die grössten Risiken?
Die meisten tödlichen Unfälle passieren beim Bergwandern und Wandern sowie beim Baden und Schwimmen in Flüssen und Seen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass diese beiden sportlichen Aktivitäten zu den beliebtesten in der Schweiz gehören. Handeln müssen wir trotzdem. Gerade beim Wandern hat das Risiko, sich zu verletzen, in den letzten zehn Jahren stark zugenommen. Wir müssen davon ausgehen, dass immer mehr Menschen ohne ausreichende Erfahrung in den Bergen unterwegs sind, oder dass sie die Risiken und Anforderungen falsch einschätzen. Die meisten schweren Unfälle passieren aber in Spielsportarten wie Fussball, Unihockey oder Handball und im Winter auf der Piste beim Ski- und Snowboardfahren. Ich bin ein Sportfan und sitze selbst oft auf dem Rennvelo. Auch deshalb ist es mir ein grosses Anliegen, weniger schwere und tödliche Unfälle im Sport zu haben.

In der Freizeit und beim Spielen, abseits von Strassen und Sport, verletzen sich jährlich rund 137’900 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. Wie können wir die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft besser schützen?
Kinder und Jugendliche sollen Erfahrungen sammeln, spielen und sich ausprobieren können. Wir wollen sie nicht in Watte packen, denn kleine Schrammen und blaue Flecken gehören zur Kindheit dazu. Schwere und tödliche Unfälle aber nicht. Die Sicherheit von Kindern ist deshalb ein strategischer Schwerpunkt unserer Präventionsarbeit. Um Kinder gut zu schützen, setzen wir auf unterschiedlichen Ebenen an. Wir entwickeln beispielsweise Unterrichtsmaterialien für Schulen und Lehrpersonen, damit sie das Thema Verkehrssicherheit in der Schule thematisieren.

Was sind die nächsten grösseren Projekte der BFU im Dienst der Unfallprävention?
Unsere Grundlage bleibt die Erforschung des Unfallgeschehens. Dazu haben wir innovative Projekte in der Pipeline. Wir analysieren beispielsweise Fahrzeugeigenschaften, die das Unfallrisiko erhöhen können und die neuen Gefahren, die sich durch die zunehmende Automatisierung der Fahrzeuge ergeben. Daraus leiten wir dann Schwerpunkte für die Beratung ab, etwa wie mit diesen Herausforderungen in der Fahrausbildung umgegangen werden soll. Beim Bergwandern verfolgen wir ein Projekt, um Wanderwege nach den Kriterien «Gefährlichkeit» und «technische Anforderungen» zu klassifizieren. Auch die Beratung von Sportverbänden und Freizeitanlagen- und Strasseneigentümern beschäftigt uns weiterhin und zunehmend. Und natürlich werden wir die Bevölkerung weiterhin mit gezielten Präventionskampagnen für Unfallrisiken sensibilisieren. Ein Schwerpunkt ist beispielsweise das Thema Sichtbarkeit auf dem Velo und E-Bike.

Interview: Corinne Remund

Weitere Informationen:
www.bfu.ch


Zur Person: Stefan Siegrist ist Direktor der BFU: Er hat Psychologie und Recht studiert, doktoriert und hat sich in Betriebswirtschaft weitergebildet. Der Solothurner prägt seit 30 Jahren die Arbeit der BFU in den drei Tätigkeitsgebieten Strassenverkehr, Sport sowie Haus und Freizeit. Unter seiner Leitung wurden die Grundlagen für effiziente und zielgerichtete Unfallprävention weiter geschärft.

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